„Liana, eine Frau von vielen”
- ein Erfahrungsbericht einer Frau in der Prostitution aus Mannheim
Mit den Kräften bin ich am Ende. Ich kämpfe, jeden Tag aufs Neue kämpfe ich. Ich kämpfe ums Überleben. Mein Körper fühlt sich müde an. Kaputt. Aber ich funktioniere noch. Nur noch. Jeden Tag aufs Neue. Manchmal fühle ich mich wie eine Maschine, die Männer ein- und wieder ausschalten, wann es ihnen gefällt. Wie es ihnen gefällt. Oft lasse ich dabei meine Gedanken wandern. Ich kann nicht weg. Aber meine Gedanken können es. Oft träume ich von einer Welt, in der ich tanze. Ich werde in Ruhe gelassen, höre Musik, alles ist hell und voller Farben. Es strahlt, von innen und außen.
Ich träume von einer Welt, in der ich Menschen um mich habe, die mir keine Angst machen. Menschen, bei denen es mir nicht in den Bauch fährt, wenn sie den Raum betreten, wenn sie mich berühren und mein ganzer Körper schreit und fleht: berühre mich nicht. Ich träume von einer Welt, in der ich geschützt bin. Aber meine Welt sieht anders aus.
Ich frage mich jeden Tag, jeden Tag frage ich mich, und nicht nur einmal: wann hat das alles ein Ende? Hat es ein Ende? Jemals? Und nach einem Ende – kommt da ein Anfang? Ich mache mich hübsch für meinen ersten Gast. Tief tunke ich den kleinen Schwamm in das Make-up und streiche eine Schicht auf mein Gesicht. Dann eine zweite. Ich gehe näher an den Spiegel, um meine Augen zu schminken. Meine Augen. Ich frage mich, wann sie das letzte Mal gestrahlt haben. Wenn ich zurückdenke, weiß ich, dass ich immer mehr vom Leben wollte. Oder vielleicht nicht unbedingt mehr – aber das hier – das wollte ich nicht. Bei der Arbeit aber kommt mir mein junges Alter zu Gute. Je jünger, desto besser heißt es. Desto weniger Tabus. Je mehr du dich verteidigst, desto gefragter bist Du auf dem Markt. Markt. Wie das klingt.
Meine Eltern ahnen nicht, was ich hier in Mannheim tue. Wenn ich mit ihnen telefoniere, erzähle ich von meinem großen Leben hier. Ein Leben ohne Make-up-Schichten, ein Leben ohne aufreizende Unterwäsche, die ich eigentlich nicht tragen möchte, weil ich nicht aufreizen möchte, ein Leben ohne Übermüdung, ohne Schmerzen, ohne Gewalt, ohne kalte Füße, zugige Flure, kalte Straßen. Ein Leben ohne Drogen und Tränen. Meiner Familie erzähle ich von einem Job, in dem ich als Kellnerin mein Geld verdiene. Ich erzähle von Trinkgeld, von höflichen, zuvorkommenden Gästen. Von dem Rotlicht erzähle ich nichts. Ich erzähle auch nicht von den vielen anderen Mädchen und jungen Frauen um mich herum, die das gleiche tun wie ich. Tagein, nachtaus. Immerzu.
Ich frage mich, was das für eine Arbeit ist, die ich da mache. Ist es überhaupt eine Arbeit? Ich zahle Steuern. Und das nicht wenig. 25 Euro am Tag. Dazu kommt die Zimmermiete. 150 Euro am Tag. Ich muss schon allein 7 Männer am Tag bedienen, damit ich das alles bezahlen kann. Davon habe ich noch kein Essen für mich gekauft. Oder Kondome, oder Schminke. Oder Wäsche gewaschen. Ist meine Arbeit also eine normale Arbeit? Ich habe Sex mit Männern und bekomme dafür Geld. Wie seltsam. Oder normal? Ich stehe jeden Morgen früh auf. Ich mache mich hübsch, jeden Morgen. Ich ziehe mir reizende Teile an und biete mich an. Alten und jungen Männern, Gebildeten und Ungebildeten. Deutschen und Migranten. Managern und Hilfsarbeitern und Familienvätern.
Die Männer, die nur zum Reden kommen möchten, sind mir lieb. Doch solche kommen selten. Es gibt Männer, die bringen manchmal Schokolade mit. Oder sie stecken mir zwanzig Euro zu. Ich kann sehen, dass sie meine Notsituation erkennen. Ich glaube, sie möchten mir helfen. Aber wie können sie mir helfen, wenn sie doch verheiratet sind und ihren engsten Freunden nicht erzählen, dass sie jeden Tag zu mir kommen? Und wo soll ich hingehen, wenn ich hier weggehe, aufhöre? Von was soll ich leben? Von was soll meine Familie leben, wenn ich ihnen nicht jede Woche Geld nach Bulgarien schicke? Ich denke an letzte Nacht und meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich schmecke ihr Salz noch bevor sie die Wangen herunter laufen.
Ich habe keine Zeit über das nachzudenken, was mir bisher passiert ist. Ich kann nicht darüber nachdenken. Nur so kann ich überleben. Wenn mein Unterleib schmerzt, schlucke ich starke Schmerzmittel. Wenn meine Seele schmerzt, Alkohol. Ich frage mich manchmal, wie lange mein Körper das mitmacht. Eigentlich müsste ich zum Arzt. Dringend. Aber ich habe keine Krankenversicherung. Ich verdiene so wenig, dass ich nicht einmal Medikamente bezahlen könnte. Heute habe ich einen Termin bei Amalie. Alle Frauen hier in der Lupinenstraße reden von der Beratungsstelle für uns. Es soll einen Arzt geben, der sich einmal in der Woche um uns kümmert. Ich kann mir das kaum vorstellen. Meine Freundin war schon dort. Sie war schwanger und wollte ihr Kind abtreiben. Jetzt möchte sie es nicht mehr verlieren. Mit Amalie hat sie eine Wohnung gefunden. Für sich und für das Kind. Sie ist jetzt keine Prostituierte mehr. Über die Diakonie hat sie einen anderen Job. Eine Arbeit in einem Sozialprojekt.
Ich habe schon oft probiert auszusteigen. Der Einstieg in die Prostitution ist leicht, aber da wieder heraus zu kommen, ist fast unmöglich. Ich wüsste nicht, wo ich nach Wohnungen suchen könnte. Ich kann kaum Deutsch. Ich kann keine Zeitung lesen. Ich könnte noch nicht einmal einen Vermieter anrufen. Was ich mir wünsche? Ein ganz normales Leben. Normale Freunde. Eine normale Wohnung. Eine normale Arbeit. Ist das zu viel verlangt? Ich möchte mir wünschen, dass es das nicht ist. Dennoch weiß ich, dass diese Augen einmal gestrahlt haben. Auch wenn das lange her ist.
Quelle:
Beratungsstelle Amalie für Frauen in der Prostitution in Mannheim (2013): Jahresbericht 2013. Liana – eine Frau von vielen. S. 18/19, Letzter Zugriff am 29.01.2019 unter
http://www.amalie-mannheim.de/uploads/downloads/Jahresbericht%20Amalie%202013.pdf.